von Charles Platt
Tim Freeman hatte auf der CryoNet-Mailingliste gefragt, warum häufige Personalwechsel in der Kryonik die Norm zu sein scheinen. Ich möchte hier ein paar Vermutungen anstellen, die auf meinen eigenen Beobachtungen der Persönlichkeitstypen beruhen, die in unserem Umfeld zu finden sind (Zweifelsohne besitze ich selbst einige dieser Eigenschaften):
1. Kryonik ist stressbeladen, oft schlecht bezahlt, und bringt selten persönliche Erfüllung. Sie ist stressig, weil es sich immer noch um ein relativ neues Feld handelt, und es zahllose Schwierigkeiten gibt, in die man geraten kann; egal, ob man an kryonischen Einfrierungen beteiligt ist, ob man mit den Medien kommuniziert, ob man mit den Behörden verhandelt oder ob man versucht Sponsoren zu finden. Kryonik bringt wenig persönliche Erfüllung, weil man nie sicher sein kann, ob man einen guten Job gemacht hat. Das endgültige Ergebnis jeder Einfrierung ist nicht vorhersehbar, und wird für Jahrzehnte ungewiss bleiben.
2. Nur sehr wenige haben Kryonik als ihren Beruf gewählt, und die meisten von diesen (wie soll ich das nett ausdrücken?) sind ziemlich eigen. Kryonik spricht nur einen kleinen Teil aller Menschen an; die Aktiven sind nur ein Bruchteil dieser kleinen Menge; und diejenige, die in der Kryonik arbeiten, sind nur ein Bruchteil des Bruchteils.
3. Weil es einen chronischen Mangel an Helfern gibt, haben schon viele Aufgaben übernehmen müssen, für die ihnen die Erfahrung oder die Fähigkeiten fehlten. Ausgesprochene Individualisten müssen in Gruppen Teamarbeit leisten oder als Manager arbeiten. Andere müssen die Buchhaltung übernehmen, obwohl sie von Finanzen keine Ahnung haben. Wieder andere müssen zu sterbenden Patienten in Krankenhäusern ausrücken, obwohl sie keine medizinische Ausbildung besitzen. Und so weiter. Es ist geradezu erstaunlich, dass so viele begabte Laien ihre Arbeit so gut gemacht haben. Trotzdem passieren manchmal Fehler, und Personen, die für ihren Job nicht ausreichend qualifiziert waren, haben selbst das Handtuch geschmissen oder sind dazu genötigt worden. Meine Hoffnung war, dass diese Probleme durch den Einsatz von bezahlten Fachkräften gelöst werden konnten. Aber eine der wichtigsten Fachkräfte hat sich als nicht vertrauenswürdig erwiesen. [Der Verfasser bezieht sich auf den Skandal um Larry Johnson – Anm. d. Ü.]
4. Wir kommen nun zu den psychischen Faktoren, die mir persönlich am wichtigsten erscheinen. Anhänger der Kryonik sind offenbar von einem starken Drang getrieben, dem Tod zu entkommen. Das ist eine ungewöhnliche, sogar merkwürdige Basis für einen Kryonik-Verein und erst Recht für eine kryonische Firma, denn sie führt zu einer emotional geladenen Atmosphäre. Denn diese Basis ist Angst vor dem Tod, und Angst führt klassischerweise zu Aggression.
5. In der Regel sind die Anhänger der Kryonik Verfechter unbedingter persönlicher Freiheit, sie sind Rebellen, die sich gegen den Status Quo auflehnen. Solche Personen sind oft elitär, streitsüchtig, und sie ändern nur schwer ihre Meinung. Sie haben wenig Verständnis für Autorität, selbst in ihrer eigenen Organisation. Es ist schwer, eine Organisation zu führen, die aus auflehnerischen Rebellen besteht.
6. Zu dieser Gruppe hinzu kommt auch noch eine Minderheit von Personen, die schlicht verblendet sind. Damit meine ich, dass sie überzogene Erwartungen haben, oder verquere Ideen darüber, was Wissenschaft ausmacht. Sie ersinnen unausgegorene Geschäftsplän, oder sie fallen ihrem Wunschdenken zum Opfer. Diese Leute behaupten oft, dass sie die Lösung für alle Probleme hätten, nur dass andere zu uneinsichtig seien, um ihre Lösung anzuerkennen. Olgar Visser, die behauptete, sie könnte mit dem gleichen Elixir sowohl Rattenherzen einfrieren und wiederbeleben sowie AIDS-Patienten heilen, scheint ein Beispiel für diesen Typ zu sein. Leider können diese Blender oft für großen Wirbel sorgen, und viele andere von ihren Vorstellungen überzeugen. Wenn das Kartenhaus dann zusammenfällt, ist die Enttäuschung um so größer, und die Eiferer werden aus der Organisation verbannt.
7. Kryonik-Aktivisten sind oft narzisstisch, was daraus folgt, dass jeder, der bereit ist, für sein eigene Konservierung viel Zeit und Arbeit zu investieren, von sich selbst stark überzeugt sein muss. Aber Narzissten sind nicht sonderlich teamfähig.
8. Kryonik-Aktivisten neigen zum Idealismus. Nur ein Idealist könnte verkünden: „Tod ist ein unerhörter Eingriff ins das menschliche Leben, und kann nicht länger akzeptiert werden.“ (Die erste Satz in Alan Harringtons Buch „The Immortalist“). Leider ist die Kryonik ein schlechtes Betätigunsfeld für Idealisten, weil ihre Ziele so ehrgeizig, aber die zur Verfügung stehenden Geldmittel so beschränkt sind. Kein Idealist kann gut damit umgehen, wenn er immer wieder gezwungen wird, halbherzige Kompromisse zu schließen, und als Folge davon ziehen sich viele Idealisten bald aus der Kryonik zurück. Aber selbst das führt zu neuer Unzufriedenheit, denn nicht für ihre Ziele zu arbeiten macht Idealisten ebenfalls unglücklich. Aus diesem Grund gibt es in der Kryonik viele Leute, die zwischen hoher Aktivität und völligem Rückzug hin- und herschwanken, ohne zu einem endgültigen Entschluss zu kommen. Mir persönlich fallen mindestens ein Dutzend Personen ein, auf die diese Beschreibung zutrifft. Dieses Schwanken wiederum verunsichert die Mitglieder von Kryonik-Organisationen, die sich vor allem Zuverlässigkeit wünschen. Wenn sie einsehen würden, dass Kryonik keine etablierte Industrie, sondern ein Experiment im der Durchführungsphase ist, und wenn sie auf Grund dieser Einsicht selbst aktiv würden, statt nur jeden Jahr ihren Beitrag zu zahlen, würden diese Mitglieder ein größeres Verständnis für die Probleme erlangen, die ich hier beschreibe. (Zu einem Teil sind die Kryonik-Organisationen an dieser Malaise selbst Schuld, weil sie den Eindruck erweckt haben, die Kryonik sei schon eine etablierte Dienstleistung).
9. Es gibt noch einige Faktoren, die speziell auf den jetzigen Stand der Kryonik zutreffen. So hat sich die Zahl der Mitglieder erhöht, während die der eingefleischten Aktivisten zurückgegangen ist. Die Kosumenten vervielfachen sich, während die Produzenten weniger werden. Die Pioniere der Kryonik (also die, die etwa vor 1980 aktiv wurden), haben sich zu einer Zeit für Kryonik entschieden, als die Kryonik noch viel spekulativer war, als sie es heute noch immer ist. Aus diesem Grund waren sie hochmotiviert, haben viele Einschränkungen in Kauf genommen, und ihre ganze Kraft eingesetzt, um ihre Ziele zu verwirklichen. Aber auch sie haben begrenzte Energie, und zeigen manche von den Charakterzügen, die ich hier beschrieben habe. Als Konsequenz sind viele von ihnen ausgebrannt, oder haben Fehler gemacht, oder wurden von ihren sozial schwierigen Mitstreitern exkommuniziert. Wir befinden uns momentan in einer übergansperiode, wo es wenige freiwillige Aktivisten gibt, aber die Kryonik-Organisationen auf der anderen Seite noch etwas zu wenig Geld haben, um Mitarbeiter voll zu bezahlen (und nach dem Fiasko um Larry Johnson vielleicht auch nervös sind, externe Fachkräfte einzustellen). Das wiederum führt zu einer unsicheren Gesamtsituation.
Nun aber zu etwas Positivem:
Ich habe in der Kryonik einige hochproduktive Personen kennen gelernt, die nur wenige von den hier aufgezählten Charakterzügen tragen. Sie haben sich aus sehr rationale Gründen für die Kryonik entschieden, waren geduldig, freundlich, zuverlässig und bereit dazu, Kompromisse einzugehen. Jetzt, wo die Kryonik mehr gesellschaftliche Akzeptanz findet, sehe ich keinen Grund warum nicht mehr Personen dieser Sorte zur Kryonik kommen sollten.
Ich möchte auch hinzufügen, dass viele der problematischen Charakterzüge von Kryonik-Aktivisten auch sehr wertvoll für die Kryonik gewesen sind. Es wären nie so zuverlässige Aufbewahrungsmethoden und ausgeklügelte Standby-Verfahren entwickelt worden, wie wir sie jetzt haben, ohne die selbstlose Aufopferung dieser narzisstischen, streitsüchtigen und rebellischen Amateure. Man kann sogar die Auffassung vertreten, dass die meisten derer, die am ausdauerndsten für die Kryonik gearbeitet haben, zu einem gewissen Grad verblendet waren, weil sie glaubten, der Fortschritt würde schneller von statten gehen, und die gesellschaftliche Anerkennung stünde unmittelbar bevor. Ein Außenstehender würde wahrscheinlich sagen, dass alle Kryonik-Anhänger verblendet sind, weil sie glauben, dass sie eine Chance auf Wiederbelebung haben.
Damit haben gerade die Charakterzüge, die die Kryonik im Moment so krisenanfällig machen, sie in ihren schweren frühen Jahren am Leben gehalten.
Aus dem Amerikanischen übertragen von Torsten
Nahm und veröffentlicht mit Genehmigung des Autors