Man könnte es als eine Prüfung des Glaubens bezeichnen – nur, dass ich gar nicht gläubig bin. Zumindest nicht im traditionellen Sinne. Trotzdem halte ich jetzt, nach jahrelangen Mühen, nach Notarterminen, Gesundheitschecks und mit mehr Wissen über internationales Recht ausgestattet, als ich je besitzen wollte, meine Mitgliedsurkunde bei einem Kryonik-Unternehmen in der Hand. Sie ist Ausdruck meiner Chance – wie gering sie auch sein mag – auf ein Leben nach dem Tod. Durch meine Mitgliedschaft bin ich dem Leben in der fernen Zukunft so nah, wie das ein Mensch im Moment überhaupt sein kann. Was nicht viel heißen will.
Was habe ich also vor? Ich möchte, dass, wenn mich eines Tages die Grenzen menschlicher Biologie und medizinischer Heilkunde einholen und ich sterbe, mein Körper bei minus 196 Grad konserviert wird, damit sämtliche biologischen Zerfallsprozesse aufgehalten werden. Vielleicht ist es dann in der Zukunft möglich, meinen Zellen, die in der Agonie des Todeskampfes nun auf unbestimmte Zeit festgefroren sind, neues Leben einzuhauchen. Vielleicht kann ich so in die Welt zurückgeholt werden, um die ferne Zukunft zu erleben, statt dass mein Körper und meine Persönlichkeit unausweichlich zersetzt werden und ins Reich des Anorganischen übergehen. Denn der Tod ist eine fließende Grenze: Wer vor 100 Jahren bei Herzstillstand als tot galt, wird heute mit einem Defibrillator zurückgeholt. Und eines glaube ich sicher: dass die menschliche Persönlichkeit vollständig durch mein Gehirn, meine Synapsen, meine Nerven und meine Organe verkörpert wird. Wenn diese Information also noch irgendwo in meinem gefrorenen Körper vorhanden ist, ist ihre Reaktivierung zumindest theoretisch erreichbar.
Natürlich ist es gut möglich, dass meine Bemühungen umsonst sind, dass die für Jahrzehnte oder Jahrhunderte erstarrte Information sich mit keinen Mitteln zu meiner Persönlichkeit und zu meinen Erinnerungen wiederherstellen lässt. In diesem Fall war meine Mühe umsonst, mein Aufbäumen gegen den Tod ein leerer Verzweiflungsakt. Aber ich will mich nicht kampflos in das menschliche Schicksal fügen, wie es seit Tausenden von Jahren gilt: Wachse auf, zeuge Kinder und sterbe dann. Ich will die Zukunft erleben, ich will sehen, wohin die Menschen sich entwickeln und wie ich an diesem jahrmillionenalten, ungeheuren Projekt teilhaben kann, das sich Evolution, Fortentwicklung, Fortschritt nennt.
Mit diesem Wunsch habe ich mich in allen etablierten Kreisen, zumindest hier in Deutschland, als unreif zu erkennen gegeben. Ja, manchmal scheint es mir, als wäre dies die Hauptvoraussetzung für die Aufnahme in den Club derjenigen, die in Deutschland die öffentliche Debatte über Ethik führen: dass als reif nur derjenige gilt, der bekennt, den eigenen Tod zu akzeptieren. Es ist dies dieselbe Reife, die uns lehrt, nicht gegen Windmühlenflügel zu kämpfen und unsere Energien nicht für aussichtslose Unterfangen zu verschwenden. Es ist dieselbe Reife, die Menschen sich vor 200 Jahren, vor Hygiene und Antibiotika, damit abfinden ließ, dass die Mehrzahl ihrer Kinder in den ersten Lebensjahren elendig starb. Es ist die Reife, die uns vor 10 Jahren, vor Viagra, lehrte, dass die männliche Impotenz im Alter hinzunehmen sei. Es ist eine Reife, deren Kern die Passivität ist und die ohne Risiko ist, weil sie sich immer nur im Nachhinein als Fehler erweist, wenn sich an die Zweifler nur die Historiker erinnern.
Wir wollen nun für das Folgende annehmen, dass ein solcher technischer Fortschritt möglich ist, dass in Zukunft Bedürfnisse erfüllbar werden, die heute noch als kindisch unterdrückt werden, weil sie unerreichbar scheinen. Wenn wir also annehmen, dass dergestalt durch die Technik der Wunsch
zur Möglichkeit wird, dann stellt sich sofort die viel grundlegendere Frage: Soll die Möglichkeit auch zur Wirklichkeit werden? Wollen wir diesen Fortschritt überhaupt? Oder raubt uns die Technik die Menschlichkeit, sind wir nicht viel eher Sklaven der Technik, als dass Technik uns dient? Kommt der Fortschritt nur zum Preis der Selbstaufgabe? Diese Auffassung, die tief in der Menschseele und ihrer Sehnsucht nach unbefleckter Natur verankert scheint, findet ihren Ausdruck in ökologischen Zurück-zur-Natur-Bewegungen ebenso wie in kritischen Essays. Und so stellt sich die Gegenfrage: Sollen wir einfach auf dem jetzigen Stand der Technik bleiben, statt uns den Risiken der Fortentwicklung auszusetzen? Das Sprichwort sagt: »Es gibt zwei Arten von Narren. Die einen sagen: Das ist alt und darum gut, die anderen jedoch meinen: Dies ist neu und darum besser.« Mit welchen Narren wollen wir es halten?
Wenn ich darüber nachdenke, schließe ich manchmal meine Augen und gebe mich einer launischen Fantasie hin. Ich stelle mir eine Ansammlung von Bakterien vor, wie sie vor circa 2,5 Milliarden Jahren gelebt haben mag. Die Bakterien sind glücklich, denn ein warmer Strom von Wasser, gefüllt mit energiereichen chemischen Verbindungen, zieht aus einem vulkanischen Schacht auf dem Meeresboden an ihnen vorbei. Sie wachsen und gedeihen und – hier beginnt die Fantasie – sie unterhalten sich. Ein Bakterium sagt: »Uns geht es gut. Wieso sollen wir uns weiterentwickeln? Lasst uns so bleiben.« Und die anderen stimmen zu: »Wieso sollen wir uns unnötig belasten? Der Nährstoffstrom reicht noch für viele Millionen Jahre. Veränderung birgt nur Risiko. Wer weiß, sie löscht uns vielleicht noch alle aus.«
Sicher ist, dass der Fortschritt immer Gefahren bringt. Und wäre es bei den Bakterien geblieben, hätten sich diese entschieden, nicht dem Weg der Evolution zu folgen, dann hätte es nie Folter, Konzentrationslager oder Atombomben gegeben. Aber die Erde hätte auch nie die Liebe, die Kreativität oder die Barmherzigkeit gekannt. Und es hätte auch nie die Möglichkeit gegeben, uns selbst zu erkennen und nach unserem Platz im Universum zu suchen. Dies ist für mich die zentrale Frage: Was bedeutet es, zu leben, und was mache ich aus dem Vermächtnis, das mir durch meine Fähigkeit, zu erkennen und zu spüren, mit auf den Weg gegeben wurde? Es ist die Selbstreflexion, die den Menschen adelt, die ihn kritisch fragen lässt, wofür er lebt und wohin ihn seine Taten führen sollen. Trotz all dem Schlechten, das Menschen vollbracht haben, sind sie doch die Einzigen auf diesem Planeten, die darüber hadern und ihre Handlungen im Gespräch mit ihren Mitmenschen reflektieren. Das Bewusstsein setzt den Menschen vom primitiven Leben ab. Wo ein Insekt unwillentlich vom Fluss der Ereignisse hinfort gerissen wird, kann der Mensch innehalten und sich selbst eine Richtung geben. Aber was soll diese Richtung sein? Bis jetzt können wir immer nur den nächsten Schritt gehen, verwundert und verloren in der weiten Welt und dem ungeheuren Universum. Noch wissen wir zu wenig über uns selbst, um über die Gegenwart hinaus den weiten
Horizont des Lebens mit allen seinen Möglichkeiten wahrzunehmen. Doch unser Bewusstsein und unsere Fähigkeit zur Erkenntnis geben uns die Chance, ein tieferes Verständnis der Welt und unserer Bedeutung in ihr zu finden und uns aus dem Sog der Notwendigkeit zu befreien.
Der Drang, sich selbst zu erkennen, und die rastlose Unzufriedenheit, die ihn dazu treibt, immer Neues zu wollen, liegen im Kern des menschlichen Wesens. Es ist diese Rastlosigkeit, die den Menschen zu immer frischen Taten antreibt, die ihn vom Rest des Tierreichs trennt und die ihn zweifelsohne zur dominanten Spezies auf diesem Planeten gemacht hat. Doch der Mensch zahlt für diesen stetigen Drang nach vorn einen hohen psychologischen Preis. Er steht auf der Sprosse einer unendlichen Leiter, die er sein Leben lang erklimmen muss. Doch zugleich wird ihm mit jedem Klimmzug bewusst, dass er auf Grund seiner Beschränktheit, auf Grund der Grenzen seines Menschseins und seiner menschlichen Biologie, für immer auf dieser Leiter gefangen ist, dass jede erreichte Sprosse nur dazu dient, ihn noch weitere Sprossen im Himmel lockend sehen zu lassen.
Dieser Druck, nie zur Ruhe zu kommen, das faustische Streben des Menschen nach immer Höherem, lässt sich nur durch das Versprechen der Transzendenz beruhigen. Es ist allein die Hoffnung, die Mühsamkeit und Plage der Existenz hinter sich zu lassen und in der Transzendenz die unentrinnbaren Grenzen seiner Unvollkommenheit zu überwinden, die den Menschen sich mit seinem Schicksal abfinden lässt. Seit Jahrtausenden hat dieses Transzendenzversprechen die Form der Religion angenommen. Doch die wachsende wissenschaftliche Erkenntnis der Aufklärung hat die Transzendenzversprechen der Religion zunehmend unglaubwürdig werden lassen. Der Humanismus hat den Menschen vom Aberglauben befreit, aber nur um den schrecklichen Preis, ihn aller Hoffnung auf ein höheres Ziel und ein Entrinnen aus dem Diktat der Rastlosigkeit zu berauben. Stattdessen hat er diese Rastlosigkeit selbst zum höchsten Ziel erklärt: Jeder Mensch soll sich selbst verwirklichen und seine Möglichkeiten ausloten. Statt ihn von seiner Unvollkommenheit zu erlösen, treibt der Humanismus den Menschen an seine Grenzen und bringt sie ihm damit in geradezu perverser Weise erst recht zu Bewusstsein. Er glorifiziert das Gefängnis, statt aus ihm auszubrechen.
Der Humanismus sieht den Menschen an sich als unveränderbar an und gesteht ihm Fortschritt nur in diesem statischen Rahmen zu. Technik ist nur ein Hilfsmittel auf dem Weg zur Selbstverwirklichung innerhalb dieser Grenzen. Dabei verkennt der Humanismus völlig das zweite, fundamentale Gesicht der Technik: Hilfsmittel für den Menschen zu sein, seine Möglichkeiten und sich selbst im Kern zu verändern und damit diese Welt zu transzendieren.
Es kann nur die Technik sein, die dem Menschen die nötigen Mittel an die Hand gibt, sich aus seinem faustischen Gefängnis zu befreien. Sie hat ihm gezeigt, wie er die Welt um sich herum verändern kann, um immer schneller die unendliche Leiter des Fortschritts emporzuhechten. Aber erst jetzt lernt der Mensch langsam, die Technik auf sich selbst anzuwenden. Sein Schicksal, bis jetzt unverrückbar beschränkt durch die Möglichkeiten, die ihm der Zufall und die Evolution gegeben haben, liegt bald in seiner eigenen Hand. Das Credo des Humanismus, das meiste aus den eigenen Möglichkeiten zu machen, wird ersetzt durch die Fähigkeit, diese Möglichkeiten selbst zu bestimmen, die biologischen Fesseln zu sprengen und – möglicherweise – Transzendenz zu erreichen.
Auf dem Weg zur Transzendenz endlich zeigt sich der Mensch wieder mit dem Humanismus versöhnt. Wo ihm der Humanismus zuerst seine Hoffnung entriss und ihn in ein nebliges Schattenreich der Unsicherheit verbannte, kann er ihn nun auf dem Weg zur Transzendenz begleiten. Denn ohne den humanistischen Glauben an den Wert des Menschen an sich ist der Weg zur Transzendenz seines Sinns entleert. Erst wo der mündige Mensch, ohne Zwang und Fremdbestimmung, sich in vollem Bewusstsein für diesen Weg entscheidet, kann er tatsächlich frei werden. Und nur, wo die Transzendenz ihm zur Selbstverwirklichung dient, kann er in sie hinein sein menschliches Wesen tragen. Es ist der Respekt des Humanismus vor dem Menschen, ohne den die Zukunft blutleer, fremd und kalt werden muss. Doch mit ihm kann das menschliche Wesen in der Transzendenz – im besten Sinne – aufgehoben sein.
Was aber liegt jenseits des faustischen Gefängnisses? Wie soll die Welt aussehen, wenn wir unsere biologischen Grenzen hinter uns lassen? Eines ist sicher: Sie wird für den Menschen so fremd sein wie für das Bakterium das Konzept der Selbstverwirklichung. Aber mit Glück wird sie einen neuen Horizont eröffnen, der die Bestimmung und Bedeutung des Lebens an sich erahnen lässt. Es gibt nur diese Entscheidung: Den Sprung zu wagen, oder sich für immer mit der Gleichförmigkeit und der Unentrinnbarkeit aus unserer Unvollkommenheit abzufinden.
Der Fortschritt trägt immer den Kern der Zerstörung in sich. Aber ohne diese Zerstörung kann der Samen nicht zum Baum, die Raupe nicht zum Schmetterling werden. Das Bekannte für das Ungewisse aufzugeben erfordert Risikobereitschaft und Mut. Der Fortschritt und die Veränderung machen Angst. Aber wenn wir der Angst nicht ins Auge schauen, werden wir nie wissen, welche Möglichkeiten jenseits des Horizonts auf uns warten.
Veröffentlicht in "Ist Technik die Zukunft der menschlichen Natur?", eds. Armin Grunwald und Justus von Hartlieb, Wehrhahn Verlag, 2012